Alles hat seine Zeit

Ja, es gibt sie – die Liebe auf den ersten Blick. Und es war Liebe auf den ersten Blick, als wir die „Amazone“ im September 2004 zum ersten Mal sahen. Sie stand in Stade hinterm Deich und glänzte dunkelblau in der Sonne. Herausgeputzt war sie nicht, ohne Mast, mit Moos und Laub an Deck. Trotzdem hat sie uns vom ersten Augenblick an in ihren Bann gezogen und wir waren sofort von ihren Linien begeistert. Das Potenzial, das in ihr steckt, haben wir gleich erkannt und dass es richtig Spaß machen würde, mit ihr durch die Nord- und Ostsee zu pflügen. Nie werde ich die erste Begegnung vergessen. Es war der Auftakt einer ganz besonderen Beziehung und einer großen Leidenschaft. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.

Sie hatte uns gefangen genommen, mit Haut und Haaren. Und so scheuten wir weder Mühe noch Kosten, um sie nach unseren Maßstäben fit zu machen. Wir wollten ein solides, sicheres, gut ausgerüstetes, stolzes und flott segelndes Boot. Das haben wir auch bekommen und unsere Freizeit sehr gerne damit verbracht. Sie war jede Mühe und jeden einzelnen Euro wert, hat es uns gedankt, uns nie im Stich gelassen. Unsere schönsten Erinnerungen verbinden wir natürlich mit dem Törn in die Karibik und zurück. 14 Monate haben wir zu dritt dieses Abenteuer bestritten und unzählige, einzigartige Momente erleben dürfen.

Jetzt werden die Pläne und Vorbereitungen für die nächste große Reise allmählich konkreter. In knapp zwei Jahren geht es los. Für viele Jahre wollen wir unter Segeln unterwegs sein, so der Plan. Es schlichen sich die ersten leisen Zweifel ein, ob die „Amazone“ dafür wirklich das richtige Boot ist. Mit 10,50 m Länge und 3,20 m Breite ist sie perfekt für Wochenend- und mehrwöchige Urlaubstörns und sogar für die Atlantikrunde. Aber um viele Jahre auf ihr zu leben? Etwas mehr Komfort und mehr Platz darf es doch bitte gerne sein. Und so wurden aus den ersten leisen Zweifeln langsam aber sicher konkrete Pläne, die nächste große Reise nicht mir ihr, sondern mit einem Katamaran zu unternehmen.

So richtig kann ich es mir noch nicht vorstellen, mich von der „Amazone“ zu trennen. Aber es geht hier nicht nur um mich. Mit 1,56 m Körpergröße habe ich überall im Boot Stehhöhe und meine Koje fühlt sich riesig an. Für Ingo mit 1,94 m sieht die Welt da schon anders aus. Da heißt es den Kopf einzuziehen und aufzupassen, im Bad nicht anzuecken.

Alles hat seine Zeit. Und jetzt ist die Zeit gekommen, Abschied zu nehmen. Ich bin mir sicher, dass unsere tapfere Kameradin neue, liebevolle Eigner bekommt und mit ihnen zu vielen schönen Reisen aufbrechen wird. Aber vergessen, vergessen werde ich sie nie.

Und was sagt die „Amazone“ dazu?

Alleine am Steg liegen ist langweilig!

Junggebliebene HANSEAT 70,

solide, furchtlos und zuverlässig, gepflegte Erscheinung,

sucht netten Eigner, gerne mit Anhang,

für gemeinsame Freizeitgestaltung.

Ja, es ist wahr. Meine Leute gehen wieder auf große Fahrt und ich werde nicht dabei sein. Das ist hart und ich frage mich, wie ich das verdient habe. Als ich es erfuhr war ich erst geschockt, dann wütend und schließlich sehr traurig.  „Schatz, Du musst das verstehen. Wir werden Dich immer liebhaben, aber wir wollen viele Jahre unterwegs sein und das möchten wir lieber mit einem größeren Boot mit mehr Komfort.“ Aha, ich muss das also verstehen. Ist das nicht ein bisschen viel verlangt? Aber allmählich mache ich mit der Entscheidung meinen Frieden. Ich kann es nicht ändern, also bleibt mir nur, mich damit abzufinden. Natürlich ist es schade, dass ich das warme, türkisfarbene Wasser, die Fliegenden Fische, die verspielten Delfine und den unglaublich blauen und tiefen Atlantik mit Antje und Ingo nicht mehr erleben werde. Die leise im Passatwind raschelnden Palmen, das sachte Dümpeln in einer malerisch schönen Ankerbucht – es wäre schon toll gewesen, dabei sein zu dürfen.

Und andererseits denke ich, dass wir zusammen eine lange und sehr schöne Zeit hatten. Sehr viel schöner, als ich es 2004 erwarten konnte. Meine Leute haben mich gehegt und gepflegt, Zeit, Geld und viel Herzblut in mich investiert. Sie haben mich in ihre Familie aufgenommen und jede freie Minute mit mir verbracht. Dafür bin ich dankbar. Es war toll mit Euch und ich wünsche Euch alles Gute, sichere Reisen, die berühmte Handbreit Wasser unter dem Kiel und fair winds. Macht’s gut und vergesst mich nicht.

Ich muss jetzt nach vorne schauen – wer sagt denn, dass es nicht wieder so sein kann? Ich glaube fest daran, dass ich neue Liebhaber finde und für mich alles gut wird.

Und ein Video mit einem Rundgang auf der Amazone gibt es auch schon: